Donnerstag, 30. Juli 2009

Wandervögel, Baldur von Schirach und Nürnberger Galgenvögel (Projekt Autobiografie)



Auf dem Hosenboden die Marmalada runtergerutscht,
Flucht vor einem Unwetter

Schüler können schon mal leichtsinnig sein. Das waren wir. Eine Spiegel-Dokumentation über die Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesse (Göring über Speer, der sich als verhinderter Widerstands-Kämpfer ausgab: "Dem hätten wir nicht vertrauen dürfen" - Göring blieb unberührt vom Grauen) Anmerkung1 machte auch die Nachkriegs-Vergangenheit noch einmal lebendig.

Baldur von Schirach (1907-1974) schaltete konsequent alle anderen Jugendbewegungen aus. Vom „Wandervogel“ oder der „Bündischen Jugend“ blieben nur Formen und Traditionen: Fahnen, Uniformen, Wanderungen, Lagerfeuer. Nach dem Krieg formierten sich trotzig die alten Bündischen und nahmen die Insignien ihrer Wandervogel-Bewegung wieder an sich.

Ich selbst gehörte während der letzten Jahre meiner Schulzeit zur "Deutschen Jungenschaft". Meine Mutter ließ mich in den Ferien mitziehen. So erlebte ich Lappland, die Vogesen, die Marmalada in den Alpen, Korsika und viele Gegenden in Deutschland. Wir trampten getrennt, trafen uns am Zielort und wanderten dann. Jeder hatte einen "Affen" auf dem Rücken, den eckigen "Rucksack" des Weltkrieges, von denen sich noch viele auftreiben ließen. Für die Nacht bauten wir unsere Kohte auf, ein Lappenzelt, in der Mitte das wärmende Feuer. Die dazu nötigen Kohten-Bäume holzten wir im Wald ab. Den Boden bedeckten wir oft mit Tannen-Zweigen und Planen um die Feuerstelle herum. Einer hielt Wache, einer musste kochen. Strümpfe am Feuer waren verpönt. Zivilisations-Dreck im Wald oder im Gebirge zu hinterlassen war erst recht verpönt. Gewöhnlich hatten wir Klampfen dabei, sangen eigene Lieder, nur nicht die von Baldur von Schirach natürlich, sondern Lieder aus der Wandervogel-Bewegung.

Da es vorkommen konnte, dass wir auch mal im Straßengraben "pennten", niemals in eine Jugendherberge gingen, hatten wir das Gefühl junger Helden, die sich von den Pfadfindern abhoben. Unsere Wanderungen mit Gepäck waren um 25 Kilometer weit. Kirschbäume in den Vogesen machten Durchfall schon in den Bäumen, ein Meeres-Fels vor Livorno ließ uns das Springen ins Wasser üben, was auf Korsika fortgesetzt wurde, in Lappland regneten wir eine Woche lang ein, an der Marmalada wurden wir von einem Unwetter überrascht, so dass wir auf unseren Lederhosenboden Felsabhänge im Schnee herunter rutschten, bis unser Horn gehört wurde und Rettung kam. Da waren wir erschöpft schon auf festem Weg.


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Anmerkung1

Ich stieß heute auf das Projekt Zeitungszeugen 1933-45. Es ist zu eng mit dem Nationalsozialismus verknüpft. Da helfen auch Kommentare dazu nicht viel. Die Zeitungen der Weimarer Republik fehlen. Noch weiter zurück gedacht wäre noch besser.

Noch nicht einmal die Urteile im Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozess wurden von der BRD anerkannt, obwohl international renommierte Richter eine Kollektivschuld der Deutschen verneinten. Und nun eine Überflutung mit Nazi-Zeitungen? Die BRD hält sich juristisch in Bezug auf Nürnberg bedeckt, was ich als Versagen deute. Die selektive Sammel-Aktion lenkt Deutschland auf seine kranke Identität hin. Die bessere Identität ist Tucholsky 1929: "Ja, Wir Lieben Dieses Land" - Teil der deutschen Nation-Hymne.

Deutsche sollten die alten Insignien ihrer besseren Identität aufgreifen, wie es einst, dem kurzen Weltuntergang des "1000jährigen Reiches" trotzend, Jungenschaft und Wandervögel taten.

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